Presseartikel

aktualisiert am 12.03.2007


01.03.2007 PNP

"Wir wollen raus in die Welt, hinaus in unser neues Leben"

 

Infoabend: Sechs Patientinnen und ihre Therapeutin diskutieren im Gymnasium Untergriesbach mit 180 Zuhörern über Essstörungen

 

Sie kämpfen erfolgreich gegen ihre Essstörung an und haben neben dem Essen auch wieder Lachen gelernt (v.l. und im Uhrzeigersinn): Elena, Beate, Anke, Lisa, Katharina und Constanze. (Foto: Pierach)

von Christine Pierach
Untergriesbach. Enorm war das Interesse. Groß war aber auch die Hilflosigkeit gegenüber dem Thema Essstörungen bei den 180 Zuhörern im Gymnasium Untergriesbach: Sechs Betroffene und ihre Ärztin vom Münchner Therapie-Centrum für Essstörungen (TCE) gaben fast drei Stunden lang Einblick in die lebensgefährliche Krankheit (siehe auch Bayern Seite 23).
"Ich bewundere den Mut von euch Patientinnen, uns hier ein großes Stück eures Lebens preiszugeben, um anderen zu helfen", fasste Vize-Schulleiter Dr. Norbert Popp den so informativen wie ernüchternden Präventionsabend "Is(s) was!?" zusammen.
Bereits im letzten Schuljahr hatte die Schülermitverantwortung (SMV), nun mit Matthias Pöppel an der Spitze, Kontakt zum Münchner Akutkrankenhaus TCE (www.t-c-e.de) gesucht.
Das Weitere übernahm Vertrauenslehrer Franz Scherb: "Was ist zu dick, was zu dünn? Wir sind Fachlehrer in Mathe oder Biologie, aber wir sind keine Experten für Magersucht und Bulimie. Wie können wir reagieren?" 


Größte Gefahr: Sich selbst anlügen


"Gehen Sie weg von der Essensebene. Das nervt. Besser sind Fragen wie ,Geht’s dir nicht gut?’ Da fühlen wir uns wahrgenommen, da kümmert sich jemand. Das tut so gut, auch wenn wir erst abweisend reagieren", weiß Katharina (20). Sie ist zum zweiten Mal im TCE. Rückfälle sind verbreitet, beweisen nur Schwere und Hartnäckigkeit der lebensbedrohlichen Störung. "Nach einem Rückfall denkt man, das ist der Zusammenbruch, nun ist wieder alles kaputt. Aber man kann das auch analysieren, seine Schwächen und Risikofaktoren erarbeiten. Die größte Gefahr ist, sich wieder selbst anzulügen", klären Constanze (20) und Lisa (18) auf.
Diese Antworten zeigen, worauf TCE-Leiterin Dr. Monika Gerlinghoff (ihr Team erarbeitet seit 1982 Therapieprogramme) baut: Wahre Experten sind nur die Betroffenen selbst. "Nur sie können uns vermitteln, was es heißt, magersüchtig oder bulimisch zu sein. Wir bemühen uns, es zu begreifen. Aber das bleibt sehr schwer." Wenn die TCE-Therapeuten nicht weiter wissen, schalten sie Patientinnen ein: "Die erreichen viel mehr als wir, weil sie eine andere, eine eigene Sprache sprechen."

Und diese Sprache von Lisa, Beate (24), Anke (23), Katharina, Elena (19) und Constanze war klar und schonungslos: "Machen Sie sich klar, dass Sie nichts machen können", rieten sie den Angehörigen und Lehrern. "Leben Sie Ihr Leben. Niemand ist zur Therapie bereit, bevor er wirklich spürt, ich kann so nicht weiterleben." 

 

Rückblickend auf die enormen Fortschritte, die die sechs Frauen schon geschafft haben, loben sie das TCE, das bundesweit einzigartig eine Übergangsphase nach der Kerntherapie vorsieht. "Und das ist keine gebackene, keine heile Welt da im TCE", widersprachen sie einer Zuhörerin, die sagte: "Das hört sich schön an. Aber irgendwann müsst ihr wieder raus in die Welt." "Wir müssen nicht, wir wollen wieder raus, wir wollen in unser neues Leben", erklärte Lisa geduldig. "Wir werden diese Krankheit immer haben. Aber wir haben gelernt, damit umzugehen", ergänzte Anke.

Nicht weniger schonungslos sind die Symptom-Bilder, deren Dokumentation zur TCE-Therapie gehört: Da steht ein krass untergewichtiges Mädchen am Herd. "Sie kocht sich eine Wassersuppe. Trotzdem trägt sie einen Mundschutz, um ja keine Kalorien einzuatmen, um die totale Kontrolle zu behalten, um um 13 Uhr genau zu wissen, bisher hat sie 77 oder eben 78 Kilokalorien zu sich genommen", erläuterte Anke. Das Essensprogramm am TCE sieht täglich acht Mahlzeiten vor. "Das hört sich total viel an. Aber ein normaler Mensch trinkt mal ein Glas Milch oder Saft, isst einen Apfel, ohne groß drüber nachzudenken oder das Mahlzeit zu nennen. Das auch so zu sehen, müssen wir erst wieder lernen", offenbarte Lisa.


"Das deformierte Leben ist kein Leben"


Zur Sorge um durch die Therapie verlorene Schul- und Lehrjahre oder Jobs sagt Anke: "Ich würde jeden Arbeitsplatz aufgeben, wenn ich dafür wieder ein vernünftiges Leben führen kann." Gerlinghoff: "Dieses deformierte Leben ist kein Leben. Die verlorene Zeit ist eine in hohem Maß gewonnene."